AUS DER AKTUELLEN ZEITUNG:
„Energieprojekte müssen ein Business Case werden“
Was hat die Ampelkoalition in ihrer ersten Halbzeit erreicht, trotz der Energiekrise von 2022? Dazu sprach E&M mit Simon Müller, Direktor Deutschland der Agora Energiewende.
E&M: Herr Müller, in unserem Interview zu Beginn der Ampelkoalition sagten Sie, die Klimapolitik müsse eine ganz neue Priorität
bekommen. Was ist daraus geworden?
Müller: Wenn wir auf den Strombereich blicken, ist ein sehr wichtiger Meilenstein das Osterpaket von 2022 gewesen und die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang ergriffen wurden. Das hat vor allen Dingen den Ausbau der erneuerbaren Energien angekurbelt, wie am absoluten Rekordjahr der Solarenergie 2023 zu sehen war. Bei der Windenergie ist das Bild schon etwas gemischter. Da hatten wir einerseits deutliche Fortschritte mit dem Windenergieflächenbedarfsgesetz, das zwei Prozent der Landesfläche für die Windenergie sichern soll. Allerdings sind die Umsetzungsfristen für die Zielerreichung bis 2030 zu lang. Auch andere Beschleunigungsmaßnahmen, beim Netzausbau oder Artenschutz, sind ein Schritt nach vorn.
E&M: Welchen Einfluss hatte die Energiekrise infolge des Wegfalls des russischen Pipelineerdgases?
Müller: Unter dem russischen Angriff auf die Ukraine haben auch die Bemühungen für Klimaschutz und die Energiewende gelitten. Gleichzeitig ist es gelungen, durch die Bekämpfung der Krise neue Impulse zu setzen. Die in der Konsequenz verabschiedete EU-Notfallverordnung Ende 2022 hat zu einem Schub bei den erneuerbaren Energien geführt − in ganz Europa. Das sieht man auch an der deutschen CO2-Emissionsbilanz für das vergangene Jahr. Wegen der besseren Lage auf dem europäischen Strommarkt waren Kohlekraftwerke weniger wettbewerbsfähig, was die Emissionen kräftig senkte. Und auch die Genehmigungslage bei Windenergie an Land hat sich deutlich verbessert mit knapp 8.000 Megawatt 2023.
E&M: Die Stromversorgung konnte gesichert werden, aber wie steht es im Wärmesektor?
Müller: Das Gebäudeenergiegesetz und das Wärmeplanungsgesetz sind klimapolitische Fortschritte. Allerdings reichen die Gesetze, wie sie jetzt beschlossen worden sind, nicht, um die 2030er-Ziele im Gebäudebereich einzuhalten. Im Vergleich zu davor haben wir jetzt das Gebäudeenergiegesetz, das den Heizungstausch regelt − also die individuelle Heizung − und das Wärmeplanungsgesetz, das vor allem den Ausbau der Fernwärme und ihre Dekarbonisierung angeht. Der dritte Baustein fehlt nach wie vor gänzlich, und zwar die Ertüchtigung der Gebäudehülle, die Energieeffizienz. Mit der Verzögerung bei der Gebäuderichtlinie auf europäischer Ebene ist es unwahrscheinlich, dass die Regierung das in dieser Legislaturperiode noch voranbringt.
E&M: Wie kann die Wärmewende Fahrt aufnehmen?
Müller: Wichtig ist jetzt die konsequente Umsetzung der beschlossenen Gesetze und dass die Kommunen die Wärmeplanung voranbringen. Dafür brauchen sie zuverlässige Finanzmittel, um die notwendigen Investitionen auch stemmen zu können. Die Förderung für den Heizungstausch ist im Bundeshaushalt 2024 enthalten. Aber beim Ausbau der grünen Fernwärme herrscht die berechtigte Sorge, dass die Fördermittel zu knapp sind. Dazu kommt, dass die Regelung im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz (KWKG) nach wie vor gemischte Anreize setzt: Die Parallelführung der Bundesförderung für effiziente Wärmenetze und des KWKG kann aktuell zu einer Situation führen, dass beispielsweise eine Wärmepumpe über eine KWK-Anlage fossil betrieben wird − in der Gesamtbetrachtung steht das allerdings im Widerspruch zu der besten und effizientesten Lösung für ein modernes Wärmenetz.
E&M: Wie sollte mit dem knappen Geld umgegangen werden?
Müller: Die Stadtwerke brauchen eine Perspektive, wie sie die Wärmewende betriebswirtschaftlich darstellen können, so dass es auch für Kundinnen und Kunden bezahlbar bleibt. Gerade im Fernwärmebereich liegt in den kommenden Jahren noch Arbeit vor uns. Wir erarbeiten im Moment eine Studie zum Business Case für Wärmenetze. Hier geht es um ein Gesamtkonzert aus Wärmequellen wie beispielsweise Geothermie oder Umgebungswärme aus Luft und Wasser sowie Power-to-Heat-Anlagen, die Erzeugungsspitzen aus erneuerbaren Energien abfangen und als Wärme speichern können. Und schließlich ist die flexible KWK ein zentraler Baustein, die ihren Betrieb vor allen Dingen an die Lage am Strommarkt anpasst. Aus diesen Bausteinen ergeben sich die Wärmequellen für die Netze der Zukunft.
E&M: Wie steht es mit dem sozialen Ausgleich der Energiewende?
Müller: Entscheidend für den Erfolg der Wärmewende ist, dass auch Leute mit kleinem Geldbeutel sich klimaneutrales Heizen leisten können. Hier ergeben sich auch für Stadtwerke und Energieversorger Perspektiven. Eine wesentliche Hürde bei der Wärmepumpe sind die Anschaffungskosten. Ein neues Geschäftsfeld für lokale Energieversorger, die ein hohes Vertrauen ihrer Kundinnen und Kunden genießen, könnten Miet- oder Leasingmodelle für klimaneutrale Heizungen sein.
E&M: Das versprochene Klimageld lässt auf sich warten, es sollte ja die CO2-Steuer auf fossile Brennstoffe ausgleichen. Wie sieht Agora das?
Müller: Das Klimageld kann ein Baustein für sozialen Ausgleich sein. Ein Blick in andere europäische Länder zeigt, dass die Einführung durchaus schnell gehen kann. Österreich hat innerhalb von wenigen Monaten die notwendigen Daten miteinander kombiniert. Wichtig ist es, realistische Erwartungen an das Klimageld zu stellen. Je mehr Leute klimaneutral heizen und ein klimaneutrales Auto fahren, desto weniger Einnahmen bleiben für eine Pro-Kopf-Rückverteilung. Es kann also durchaus eine Überlegung sein, das Geld gezielt für das Abfedern sozialer Schieflagen einzusetzen. Wer auf dem Land ohne öffentlichen Nahverkehr und in einem schlecht isolierten Haus mit alter Heizung wohnt, hat höhere CO2-Kosten. In Härtefällen braucht es Instrumente, die den Menschen helfen, sich aus dieser Situation heraus zu investieren. Frankreich hat beispielsweise ein sehr günstiges E-Auto-Leasingangebot für Leute mit geringem Einkommen, die zur Arbeit pendeln müssen. Eine andere Möglichkeit ist, das Klimageld über die Einkommensteuer gerechter zu verteilen. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Regierung den sozialen Ausgleich angeht.
E&M: Wie zufrieden sind Sie mit den Entwicklungen auf EU-Ebene?
Müller: Die Verstetigung von zentralen Elementen der EU-Notfallverordnung durch die Richtlinie für die erneuerbaren Energien (RED III) ist gut. Auch die Nachschärfung des Europäischen Emissionshandels (ETS I) war wichtig. Ab Ende der Dreißigerjahre werden die letzten Zertifikate ausgegeben. Und ab 2027 kommt der CO2-Handel (ETS II) auch für Gebäude und Verkehr. Hier steht die Bundesregierung jetzt vor der Aufgabe, den Übergang von unserem nationalen Brennstoffemissionshandel zum ETS II klug auszugestalten. Auch bei hohen CO2-Preisen darf es nicht zu unfairen Belastungen kommen − es muss darum gehen, die Mittel sinnvoll für die Wärme- und die Verkehrswende einzusetzen.
E&M: Wir wollen mehr Anwendungen auf erneuerbar produzierten Strom umstellen, aber Strom wird immer teurer − was tun?
Müller: Zunächst haben wir noch immer Schieflagen im System: So entfällt die Konzessionsabgabe für Heizgas, für Strom ist sie zu zahlen. Auch die Energiesteuer ist für Strom höher als bei Gas. Es gibt eine Reihe von Hebeln, die man stellen kann, um Stromanwendungen wirtschaftlicher zu machen. Und natürlich wird die Stromerzeugung durch den Erneuerbaren-Ausbau preiswerter. Gleichzeitig werden sich die Investitionen in die Netze in höheren Entgelten niederschlagen. Das sieht man 2024 bereits deutlich: Die ursprünglich vorgesehenen 5,5 Milliarden Euro zur Entlastung aus dem Bundeshaushalt sind weggefallen. Und dass die EEG-Umlage seit Mitte 2022 über den Haushalt gedeckt wird, hat durch die Preissteigerungen in der fossilen Energiekrise kaum jemand wahrgenommen. In einem klimaneutralen Stromsystem gibt es auch jenseits einer Reform von Steuern und Abgaben auf die verschiedenen Energieträger eine Reihe von Ansätzen, den Strom günstiger zu machen und gleichzeitig die Effizienz des Stromsystems zu verbessern. Wir haben vor Kurzem eine Studie über die Potenziale dezentraler Flexibilitäten veröffentlicht, also Elektroautos, Wärmepumpen und Heimspeicher. Wenn diese Anwendungen − angereizt über dynamische Stromtarife − Strom dann verbrauchen, wenn er günstig verfügbar ist und über Preissignale auch die Netzauslastung berücksichtigen können, sinken die Stromkosten für alle. Zwar können Haushalte mit Flexibilitätsoptionen am meisten Kosten einsparen, aber letztlich profitieren alle davon, wenn teure Kraftwerke weniger Stunden laufen und die Netze besser ausgelastet sind. Es gibt noch weitere Hebel, den Strompreis zu senken, beispielsweise die verbesserte Integration des europäischen Strommarktes, verlängerte Abschreibungszeiträume für Offshore-Netze oder oberirdische Stromleitungen statt Erdkabel.
E&M: Stichwort Kraftwerksstrategie: Brauchen wir bei regionalem dynamischem Ausgleich noch viele neue Gaskraftwerke?
Müller: Es ist Konsens, dass wir genug regelbare Kraftwerke brauchen, damit wir in den Zeiten, in denen Wind- und Solarenergie wenig Strom erzeugen, die Last zuverlässig decken können. In unserer 2022 veröffentlichten Studie ‚Klimaneutrales Stromsystem 2035‘ sehen wir, dass dezentrale Flexibilitäten für kurze Zeitfenster viel ausgleichen können. Die Aufgabe von den regelbaren Kraftwerken ist daher vor allem, eine bestimmte Menge an Energie während Phasen mit wenig Wind und Sonne bereitzustellen. In unserem Szenario haben wir berechnet, dass 2035 hierfür eine Kraftwerksleistung von ungefähr 20.000 Megawatt mit 3.500 Volllaststunden erforderlich ist, weitere 20.000 Megawatt, die nur ein paar 100 Stunden laufen, und noch einmal die gleiche Leistung, die eher eine Sicherheitsreserve darstellt. Die Kraftwerke laufen zunächst mit Erdgas und stellen dann zunehmend auf klimaneutralen Wasserstoff oder Wasserstoffderivate um. Wichtig ist parallel der Netzausbau für Strom und Wasserstoff. Hier kann eine weitsichtige Planung der Netze Kosten sparen.
E&M: Wie geht es mit dem Strommarkt weiter, bleibt Deutschland eine Preiszone?
Müller: Das ist eine schwierige politische Diskussion. Bei der Aufteilung der Gebotszone gibt es einerseits die Sorge über sehr niedrige Preise im Norden, was den Förderbedarf der erneuerbaren Anlagen erhöhen würde, und andererseits über sehr hohe Preise im Süden, was die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie dort schwächen würde. Ein ‚weiter so‘ mit einer einheitlichen Gebotszone ist aber spätestens langfristig keine Option. Denn damit Märkte gut funktionieren können, müssen sie auch die technischen Gegebenheiten abbilden. Und da wird es perspektivisch so sein, dass wir nicht unbegrenzt Strom von Norden nach Süden beziehungsweise auch von Süden nach Norden transportieren können. Eine Reform muss aber behutsam vorgehen, denn die einheitliche Gebotszone hat auch Vorteile: Wir haben in Deutschland am Terminmarkt eine sehr hohe Liquidität. Agora hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, um diese Debatte mit Fakten zu untermauern. Wir schauen darin auf die Auswirkungen der Preiszonen in skandinavischen Ländern. Dort sieht man: Liquidität ist in der Tat ein zentrales Thema, viele andere Einwände werden aber entkräftet. In einem anderen Projekt analysieren wir, wie die deutschen Preise der letzten Jahre in einem System mit verschiedenen Preisen je Netzknoten gewesen wären. Es liegen erste Analysen vor, danach sind die Preisunterschiede gar nicht mal so hoch, wie oft gesagt wird. Und noch mal: In einem klimaneutralen Stromsystem auf Basis von erneuerbaren Energien in Deutschland wird es sehr viele Probleme geben, diese einheitliche Gebotszone aufrechtzuerhalten. Selbst bei einem sehr erfolgreichen Netzausbau bleiben die Engpässe bestehen.
E&M: Was soll denn die Ampel in ihren kommenden zwei Jahren noch machen?
Müller: Aus Sicht der Klimaschutzziele fehlen im Verkehrsbereich noch eine schlüssige Gesamtstrategie und im Gebäudebereich zusätzliche Maßnahmen, vor allem, um Investitionen in Wärmenetze zu ermöglichen. Zudem ist eine deutlich höhere Planungssicherheit für die Industrie und die Kraftwerksstrategie nötig. Noch entscheidender als Förderung ist Investitionssicherheit, damit ein Business Case entsteht, mit dem Projekte Finanzierungen zu günstigen Konditionen bekommen. Außerdem brauchen wir eine realistische Carbon-Management-Strategie, die CCS (unterirdische Speicherung von CO2; d. Red.) für Anwendungen vorhält, die keine andere Möglichkeit haben, ihre Klimagase zu vermeiden. Dann ist für das erste Quartal die Reform des Klimaschutzgesetzes angekündigt. Hier kommt es darauf an, eine klare Verantwortung aufrechtzuerhalten. Denn gerade bei Zielverfehlungen im Gebäude- und Verkehrsbereich riskiert die Bundesregierung Strafzahlungen, wenn Deutschland die europäischen Klimaziele verfehlt. Bei der anstehenden Europawahl im Juni und den Kommunalwahlen in neun Bundesländern besteht die Herausforderung, die Themen Klimaschutz, Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit zu verbinden, so dass wir den demokratischen Zusammenhalt stärken. Zuletzt besteht nach dem Karlsruher Haushaltsurteil 2024 die große Staatsaufgabe darin, Zukunftsinvestitionen langfristig auf ein solides Finanzierungsfundament zu stellen. Nur so können wir die großen Herausforderungen im Klimabereich gut anpacken, den sozialen Zusammenhalt sichern und eine starke Wirtschaft erhalten.
Müller: Wenn wir auf den Strombereich blicken, ist ein sehr wichtiger Meilenstein das Osterpaket von 2022 gewesen und die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang ergriffen wurden. Das hat vor allen Dingen den Ausbau der erneuerbaren Energien angekurbelt, wie am absoluten Rekordjahr der Solarenergie 2023 zu sehen war. Bei der Windenergie ist das Bild schon etwas gemischter. Da hatten wir einerseits deutliche Fortschritte mit dem Windenergieflächenbedarfsgesetz, das zwei Prozent der Landesfläche für die Windenergie sichern soll. Allerdings sind die Umsetzungsfristen für die Zielerreichung bis 2030 zu lang. Auch andere Beschleunigungsmaßnahmen, beim Netzausbau oder Artenschutz, sind ein Schritt nach vorn.
E&M: Welchen Einfluss hatte die Energiekrise infolge des Wegfalls des russischen Pipelineerdgases?
Müller: Unter dem russischen Angriff auf die Ukraine haben auch die Bemühungen für Klimaschutz und die Energiewende gelitten. Gleichzeitig ist es gelungen, durch die Bekämpfung der Krise neue Impulse zu setzen. Die in der Konsequenz verabschiedete EU-Notfallverordnung Ende 2022 hat zu einem Schub bei den erneuerbaren Energien geführt − in ganz Europa. Das sieht man auch an der deutschen CO2-Emissionsbilanz für das vergangene Jahr. Wegen der besseren Lage auf dem europäischen Strommarkt waren Kohlekraftwerke weniger wettbewerbsfähig, was die Emissionen kräftig senkte. Und auch die Genehmigungslage bei Windenergie an Land hat sich deutlich verbessert mit knapp 8.000 Megawatt 2023.
E&M: Die Stromversorgung konnte gesichert werden, aber wie steht es im Wärmesektor?
Müller: Das Gebäudeenergiegesetz und das Wärmeplanungsgesetz sind klimapolitische Fortschritte. Allerdings reichen die Gesetze, wie sie jetzt beschlossen worden sind, nicht, um die 2030er-Ziele im Gebäudebereich einzuhalten. Im Vergleich zu davor haben wir jetzt das Gebäudeenergiegesetz, das den Heizungstausch regelt − also die individuelle Heizung − und das Wärmeplanungsgesetz, das vor allem den Ausbau der Fernwärme und ihre Dekarbonisierung angeht. Der dritte Baustein fehlt nach wie vor gänzlich, und zwar die Ertüchtigung der Gebäudehülle, die Energieeffizienz. Mit der Verzögerung bei der Gebäuderichtlinie auf europäischer Ebene ist es unwahrscheinlich, dass die Regierung das in dieser Legislaturperiode noch voranbringt.
E&M: Wie kann die Wärmewende Fahrt aufnehmen?
Müller: Wichtig ist jetzt die konsequente Umsetzung der beschlossenen Gesetze und dass die Kommunen die Wärmeplanung voranbringen. Dafür brauchen sie zuverlässige Finanzmittel, um die notwendigen Investitionen auch stemmen zu können. Die Förderung für den Heizungstausch ist im Bundeshaushalt 2024 enthalten. Aber beim Ausbau der grünen Fernwärme herrscht die berechtigte Sorge, dass die Fördermittel zu knapp sind. Dazu kommt, dass die Regelung im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz (KWKG) nach wie vor gemischte Anreize setzt: Die Parallelführung der Bundesförderung für effiziente Wärmenetze und des KWKG kann aktuell zu einer Situation führen, dass beispielsweise eine Wärmepumpe über eine KWK-Anlage fossil betrieben wird − in der Gesamtbetrachtung steht das allerdings im Widerspruch zu der besten und effizientesten Lösung für ein modernes Wärmenetz.
E&M: Wie sollte mit dem knappen Geld umgegangen werden?
Müller: Die Stadtwerke brauchen eine Perspektive, wie sie die Wärmewende betriebswirtschaftlich darstellen können, so dass es auch für Kundinnen und Kunden bezahlbar bleibt. Gerade im Fernwärmebereich liegt in den kommenden Jahren noch Arbeit vor uns. Wir erarbeiten im Moment eine Studie zum Business Case für Wärmenetze. Hier geht es um ein Gesamtkonzert aus Wärmequellen wie beispielsweise Geothermie oder Umgebungswärme aus Luft und Wasser sowie Power-to-Heat-Anlagen, die Erzeugungsspitzen aus erneuerbaren Energien abfangen und als Wärme speichern können. Und schließlich ist die flexible KWK ein zentraler Baustein, die ihren Betrieb vor allen Dingen an die Lage am Strommarkt anpasst. Aus diesen Bausteinen ergeben sich die Wärmequellen für die Netze der Zukunft.
E&M: Wie steht es mit dem sozialen Ausgleich der Energiewende?
Müller: Entscheidend für den Erfolg der Wärmewende ist, dass auch Leute mit kleinem Geldbeutel sich klimaneutrales Heizen leisten können. Hier ergeben sich auch für Stadtwerke und Energieversorger Perspektiven. Eine wesentliche Hürde bei der Wärmepumpe sind die Anschaffungskosten. Ein neues Geschäftsfeld für lokale Energieversorger, die ein hohes Vertrauen ihrer Kundinnen und Kunden genießen, könnten Miet- oder Leasingmodelle für klimaneutrale Heizungen sein.
E&M: Das versprochene Klimageld lässt auf sich warten, es sollte ja die CO2-Steuer auf fossile Brennstoffe ausgleichen. Wie sieht Agora das?
Müller: Das Klimageld kann ein Baustein für sozialen Ausgleich sein. Ein Blick in andere europäische Länder zeigt, dass die Einführung durchaus schnell gehen kann. Österreich hat innerhalb von wenigen Monaten die notwendigen Daten miteinander kombiniert. Wichtig ist es, realistische Erwartungen an das Klimageld zu stellen. Je mehr Leute klimaneutral heizen und ein klimaneutrales Auto fahren, desto weniger Einnahmen bleiben für eine Pro-Kopf-Rückverteilung. Es kann also durchaus eine Überlegung sein, das Geld gezielt für das Abfedern sozialer Schieflagen einzusetzen. Wer auf dem Land ohne öffentlichen Nahverkehr und in einem schlecht isolierten Haus mit alter Heizung wohnt, hat höhere CO2-Kosten. In Härtefällen braucht es Instrumente, die den Menschen helfen, sich aus dieser Situation heraus zu investieren. Frankreich hat beispielsweise ein sehr günstiges E-Auto-Leasingangebot für Leute mit geringem Einkommen, die zur Arbeit pendeln müssen. Eine andere Möglichkeit ist, das Klimageld über die Einkommensteuer gerechter zu verteilen. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Regierung den sozialen Ausgleich angeht.
E&M: Wie zufrieden sind Sie mit den Entwicklungen auf EU-Ebene?
Müller: Die Verstetigung von zentralen Elementen der EU-Notfallverordnung durch die Richtlinie für die erneuerbaren Energien (RED III) ist gut. Auch die Nachschärfung des Europäischen Emissionshandels (ETS I) war wichtig. Ab Ende der Dreißigerjahre werden die letzten Zertifikate ausgegeben. Und ab 2027 kommt der CO2-Handel (ETS II) auch für Gebäude und Verkehr. Hier steht die Bundesregierung jetzt vor der Aufgabe, den Übergang von unserem nationalen Brennstoffemissionshandel zum ETS II klug auszugestalten. Auch bei hohen CO2-Preisen darf es nicht zu unfairen Belastungen kommen − es muss darum gehen, die Mittel sinnvoll für die Wärme- und die Verkehrswende einzusetzen.
E&M: Wir wollen mehr Anwendungen auf erneuerbar produzierten Strom umstellen, aber Strom wird immer teurer − was tun?
Müller: Zunächst haben wir noch immer Schieflagen im System: So entfällt die Konzessionsabgabe für Heizgas, für Strom ist sie zu zahlen. Auch die Energiesteuer ist für Strom höher als bei Gas. Es gibt eine Reihe von Hebeln, die man stellen kann, um Stromanwendungen wirtschaftlicher zu machen. Und natürlich wird die Stromerzeugung durch den Erneuerbaren-Ausbau preiswerter. Gleichzeitig werden sich die Investitionen in die Netze in höheren Entgelten niederschlagen. Das sieht man 2024 bereits deutlich: Die ursprünglich vorgesehenen 5,5 Milliarden Euro zur Entlastung aus dem Bundeshaushalt sind weggefallen. Und dass die EEG-Umlage seit Mitte 2022 über den Haushalt gedeckt wird, hat durch die Preissteigerungen in der fossilen Energiekrise kaum jemand wahrgenommen. In einem klimaneutralen Stromsystem gibt es auch jenseits einer Reform von Steuern und Abgaben auf die verschiedenen Energieträger eine Reihe von Ansätzen, den Strom günstiger zu machen und gleichzeitig die Effizienz des Stromsystems zu verbessern. Wir haben vor Kurzem eine Studie über die Potenziale dezentraler Flexibilitäten veröffentlicht, also Elektroautos, Wärmepumpen und Heimspeicher. Wenn diese Anwendungen − angereizt über dynamische Stromtarife − Strom dann verbrauchen, wenn er günstig verfügbar ist und über Preissignale auch die Netzauslastung berücksichtigen können, sinken die Stromkosten für alle. Zwar können Haushalte mit Flexibilitätsoptionen am meisten Kosten einsparen, aber letztlich profitieren alle davon, wenn teure Kraftwerke weniger Stunden laufen und die Netze besser ausgelastet sind. Es gibt noch weitere Hebel, den Strompreis zu senken, beispielsweise die verbesserte Integration des europäischen Strommarktes, verlängerte Abschreibungszeiträume für Offshore-Netze oder oberirdische Stromleitungen statt Erdkabel.
E&M: Stichwort Kraftwerksstrategie: Brauchen wir bei regionalem dynamischem Ausgleich noch viele neue Gaskraftwerke?
Müller: Es ist Konsens, dass wir genug regelbare Kraftwerke brauchen, damit wir in den Zeiten, in denen Wind- und Solarenergie wenig Strom erzeugen, die Last zuverlässig decken können. In unserer 2022 veröffentlichten Studie ‚Klimaneutrales Stromsystem 2035‘ sehen wir, dass dezentrale Flexibilitäten für kurze Zeitfenster viel ausgleichen können. Die Aufgabe von den regelbaren Kraftwerken ist daher vor allem, eine bestimmte Menge an Energie während Phasen mit wenig Wind und Sonne bereitzustellen. In unserem Szenario haben wir berechnet, dass 2035 hierfür eine Kraftwerksleistung von ungefähr 20.000 Megawatt mit 3.500 Volllaststunden erforderlich ist, weitere 20.000 Megawatt, die nur ein paar 100 Stunden laufen, und noch einmal die gleiche Leistung, die eher eine Sicherheitsreserve darstellt. Die Kraftwerke laufen zunächst mit Erdgas und stellen dann zunehmend auf klimaneutralen Wasserstoff oder Wasserstoffderivate um. Wichtig ist parallel der Netzausbau für Strom und Wasserstoff. Hier kann eine weitsichtige Planung der Netze Kosten sparen.
E&M: Wie geht es mit dem Strommarkt weiter, bleibt Deutschland eine Preiszone?
Müller: Das ist eine schwierige politische Diskussion. Bei der Aufteilung der Gebotszone gibt es einerseits die Sorge über sehr niedrige Preise im Norden, was den Förderbedarf der erneuerbaren Anlagen erhöhen würde, und andererseits über sehr hohe Preise im Süden, was die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie dort schwächen würde. Ein ‚weiter so‘ mit einer einheitlichen Gebotszone ist aber spätestens langfristig keine Option. Denn damit Märkte gut funktionieren können, müssen sie auch die technischen Gegebenheiten abbilden. Und da wird es perspektivisch so sein, dass wir nicht unbegrenzt Strom von Norden nach Süden beziehungsweise auch von Süden nach Norden transportieren können. Eine Reform muss aber behutsam vorgehen, denn die einheitliche Gebotszone hat auch Vorteile: Wir haben in Deutschland am Terminmarkt eine sehr hohe Liquidität. Agora hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, um diese Debatte mit Fakten zu untermauern. Wir schauen darin auf die Auswirkungen der Preiszonen in skandinavischen Ländern. Dort sieht man: Liquidität ist in der Tat ein zentrales Thema, viele andere Einwände werden aber entkräftet. In einem anderen Projekt analysieren wir, wie die deutschen Preise der letzten Jahre in einem System mit verschiedenen Preisen je Netzknoten gewesen wären. Es liegen erste Analysen vor, danach sind die Preisunterschiede gar nicht mal so hoch, wie oft gesagt wird. Und noch mal: In einem klimaneutralen Stromsystem auf Basis von erneuerbaren Energien in Deutschland wird es sehr viele Probleme geben, diese einheitliche Gebotszone aufrechtzuerhalten. Selbst bei einem sehr erfolgreichen Netzausbau bleiben die Engpässe bestehen.
E&M: Was soll denn die Ampel in ihren kommenden zwei Jahren noch machen?
Müller: Aus Sicht der Klimaschutzziele fehlen im Verkehrsbereich noch eine schlüssige Gesamtstrategie und im Gebäudebereich zusätzliche Maßnahmen, vor allem, um Investitionen in Wärmenetze zu ermöglichen. Zudem ist eine deutlich höhere Planungssicherheit für die Industrie und die Kraftwerksstrategie nötig. Noch entscheidender als Förderung ist Investitionssicherheit, damit ein Business Case entsteht, mit dem Projekte Finanzierungen zu günstigen Konditionen bekommen. Außerdem brauchen wir eine realistische Carbon-Management-Strategie, die CCS (unterirdische Speicherung von CO2; d. Red.) für Anwendungen vorhält, die keine andere Möglichkeit haben, ihre Klimagase zu vermeiden. Dann ist für das erste Quartal die Reform des Klimaschutzgesetzes angekündigt. Hier kommt es darauf an, eine klare Verantwortung aufrechtzuerhalten. Denn gerade bei Zielverfehlungen im Gebäude- und Verkehrsbereich riskiert die Bundesregierung Strafzahlungen, wenn Deutschland die europäischen Klimaziele verfehlt. Bei der anstehenden Europawahl im Juni und den Kommunalwahlen in neun Bundesländern besteht die Herausforderung, die Themen Klimaschutz, Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit zu verbinden, so dass wir den demokratischen Zusammenhalt stärken. Zuletzt besteht nach dem Karlsruher Haushaltsurteil 2024 die große Staatsaufgabe darin, Zukunftsinvestitionen langfristig auf ein solides Finanzierungsfundament zu stellen. Nur so können wir die großen Herausforderungen im Klimabereich gut anpacken, den sozialen Zusammenhalt sichern und eine starke Wirtschaft erhalten.
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Mittwoch, 13.03.2024, 09:10 Uhr
Mittwoch, 13.03.2024, 09:10 Uhr
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