
Quelle: E&M
30 JAHRE E&M:
Drei Jahrzehnte Trends setzen und auf den Schlips treten
Zum 30. Geburtstag von E&M ein Interview mit dem ersten und mit dem aktuellen Chefredakteur, Helmut Sendner und Stefan Sagmeister.
Sie wissen 30. Geburtstage zu feiern, auch wenn ihr eigener − mit Verlaub − jeweils ein paar Monde länger her ist als das
Jubiläum von Energie & Management und auch weniger Aufmerksamkeit erhalten hat. Schlagzeilen produzieren beide Männer gleichwohl
zuhauf, weil es eben zum journalistischen Handwerk bei einer Zeitung und einem Verlag für die Energiewirtschaft gehört. Sie
sind die Chefredakteure der ersten Stunde und der aktuellen: Helmut Sendner (Jahrgang 1947) und Stefan Sagmeister (1967).
Für den gemeinsamen Blick aus verschiedenen Perspektiven auf Blatt und Business verabredeten sie sich mit Volker Stephan zum
ausführlichen Gespräch.

E&M: Um uns der Energiewirtschaft von vor 30 Jahren zu nähern, Helmut Sendner, dürfen Sie uns Ihre Lieblingsschlagzeile des Jahres 1994 reichen. Welche?
Sendner: Auch wenn sie in der Form nicht erschienen ist, lautet meine ganz persönliche Schlagzeile: ‚E&M ist neu entstanden auf dem Markt‘.
E&M: Was macht diese Nachricht zu einer besonderen?
Sendner: Es war damals ein Wagnis, ein neues unabhängiges Blatt aufzubauen. Denn der Markt war mit Zeitschriften für die Energiewirtschaft gut besetzt. Mich muss wohl der Teufel geritten haben. Wir haben uns bei den Banken viel Geld geborgt, um das Abenteuer beginnen zu können. Letztlich hatte ich nach einem Eigentümerwechsel beim Energie Spektrum, dessen Chefredakteur ich bis dahin war, keine Alternative zu der Idee gesehen, mit einigen anderen Freigeistern eine weitere Zeitschrift auf den Markt zu bringen. Die Anfangszeit ist mit stressig nur unzureichend beschrieben: Wir haben sieben Tage die Woche gearbeitet, meine Frau Gisela als Inhouse-Managerin und ich haben auf Gehalt verzichtet, um unsere Redaktion bezahlen zu können. Denn der Markt reagierte zunächst verwirrt und zurückhaltend. Er hat einige Monate gebraucht, um die neue Qualität zu erkennen und Anzeigen zu schalten.
E&M: Wie, Stefan Sagmeister, war die Außenwahrnehmung jener Zeit?
Sagmeister: Ich kam ein knappes Jahrzehnt nach der Gründung von E&M erstmals beruflich mit der Energiewirtschaft in Berührung. Da umgab den Verlag bereits eine gewisse Aura, teils sprach man ehrfürchtig von ihm, einigen erschien er auch etwas verrucht. Immer schwang allerdings der Respekt mit, dass E&M sich nicht darum scherte, selbst den Großen auf den Schlips zu treten. Das mag mit Helmut Sendners legendärer Abneigung gegen Krawatten zu tun haben … Mit seiner äußeren Erscheinung, dem wallenden Bart und der Art, unbequeme Fragen zu stellen, prägte er das Bild von E&M als unkonventionellem Medium.
E&M: ... das sich ganz rebellisch ein Schloss als Verlagssitz gönnte ...
Sendner: Ich betrat es als Mitarbeiter, Schlossherrin war eindeutig meine Frau. Als unser Büro am Ammersee zu klein wurde, schalteten wir eine Suchannonce. Es meldete sich die Eigentümerin des Schlosses in Herrsching, das seit jeher unsere Fantasie beflügelt hatte, weil wir täglich auf dem Weg zur Arbeit daran vorbeikamen. Meine Frau bot eine unserem Budget entsprechende Miete, worauf die ältere Dame kurz und knapp sagte: ‚Genau so viel haben wir uns vorgestellt.‘
Sagmeister: Chefredakteure können sich ihre Schlossherrenträume in dem altehrwürdigen Gemäuer übrigens schnell abschminken. Mein ‚Thron‘ steht in einer zehn Quadratmeter großen Kammer. Die Wände sind dermaßen dick, dass der Handyempfang, nun ja, besonders gut in dem sehr schönen Garten ist ...
Sendner: Die Umgebung erzeugt einfach eine kreative Atmosphäre. Es macht einen Unterschied, ob ich bei der Arbeit auf alte Bäume und den See oder auf Betonklötze schaue.
E&M: Wie unterscheidet sich die journalistische Arbeit, die heute vom Schloss ausgeht, von den Anfängen?
Sagmeister: Die Zeiten sind schwer zu vergleichen. Eine im Rhythmus von 14 Tagen erscheinende Printzeitung als Flaggschiff hat vor 30 Jahren hervorragend funktioniert, als die Monopole in der Energiewirtschaft fielen und die Liberalisierung des Marktes viele neue Stadtwerke und Player hervorbrachte. Heute herrscht eine große Vielfalt, sowohl an Fachmedien als auch an Verbreitungskanälen. Wir produzieren weiter eine monatlich gedruckte Ausgabe, bedienen aber besonders das Bedürfnis nach schneller Information über das Online-Portal, versenden Newsletter, bieten einen Podcast und weitere digitale Dienste. Heute ließe sich ein Kaltstart wie bei E&M vor 30 Jahren vermutlich nur mit einem sehr großen Batzen Geld verwirklichen. Und ob das nachhaltig funktionieren könnte, sei dahingestellt.
Sendner: Ich blicke nicht ohne eine gewisse Genugtuung darauf, im Jahr 2000 mit Powernews den ersten Online-Nachrichtendienst für die Energiewirtschaft in Deutschland gegründet zu haben. Wir haben dabei nicht den Fehler begangen, ihn frei zugänglich zu machen und erst später kostenpflichtige Inhalte anzubieten. Es war sehr kühn von uns, von Beginn an streng Geld für aktuelle Nachrichten zu verlangen. Das war 1994 noch anders.
E&M: Inwiefern?
Sendner: Zu meiner Zeit konnten wir uns den Qualitätsjournalismus nur leisten, weil wir parallel viel mehr angeboten und damit Geld verdient haben. Wir waren Dienstleister im wirtschaftlichen Umfeld, was uns viel Anerkennung verschafft hat. Etwa durch von uns organisierte Foren auf Messen oder moderierte Großveranstaltungen. Die Exportinitiativen Erneuerbare Energien und später Energieeffizienz sind nur zwei Beispiele. Das Bundeswirtschaftsministerium unterstützt damit bis heute kleine und mittlere Unternehmen beim Auslandsgeschäft und wir haben dafür anfangs die Konzepte erstellt und weltweit Veranstaltungen moderiert. Eine andere unserer Nebentätigkeiten hat uns schließlich eine Klage vor einem Gericht in Karlsruhe eingebracht.
E&M: Was war der Vorwurf?
Sendner: Nun, mit einem norwegischen Partner hatten wir Mitte der 2000er-Jahre Powermonitor gegründet. Unsere Idee war, die Kraftwerksleistungen der großen Betreiber zu messen und zu veröffentlichen, um den Markt transparenter zu machen. Unsere Daten gaben Aufschluss über die aktuelle Erzeugung. Das passte Utz Claassen, dem damaligen Chef der Energie Baden-Württemberg, überhaupt nicht. Er verklagte uns wegen angeblicher Werksspionage. Den Prozess verlor EnBW in der ersten Instanz, daraufhin gab das Unternehmen klein bei.
E&M: Eine unvorstellbare Abwehrstrategie aus heutiger Sicht, wo die Energiewende ein komplexes Puzzle verschiedenster Erzeugungsanlagen ist und Transparenz über die verfügbare Kraftwerksleistung erfordert. Wie blicken Sie heute auf ‚die großen Vier‘ − Vattenfall, RWE, Eon und EnBW?
Sendner: Die Zeiten sind lange vorbei, dass RWE-Vorstände auf Bilanzpressekonferenzen unwidersprochen behaupten konnten, Strom fließe nur in eine Richtung − nämlich vom Kraftwerk zum Kunden und nicht umgekehrt. Oder alte Aussagen von Eon, unter dezentraler Erzeugung seien fossile Kraftwerksblöcke mit 80 bis 100 Megawatt zu verstehen. Jürgen Großmann, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von RWE, wischte Forderungen nach mehr Solarenergie in Deutschland seinerzeit mit dem Spruch vom Tisch, in Alaska baue man auch keine Ananas an. Die Konzerne haben massiv versucht, den Untergang ihrer alten Geschäftsmodelle hinauszuzögern und ihre Position zu verteidigen. Heute lässt sich angesichts vieler Stadtwerke und alternativer Energieerzeuger nicht mehr so einfach von Monopolen und den ‚Bösen‘ reden. 2.000 hinzugekommene Akteure auf dem Gas- und Strommarkt zeugen von der Liberalisierung. Die Großen verfügen nach wie vor über viel Geld und vielleicht 50 Prozent Marktanteil, aber nicht mehr über die Macht, neue Unternehmen zu verhindern.
Sagmeister: Zur ‚Ehrenrettung‘ der Großen sei darauf verwiesen, dass ein Stadtwerk nicht automatisch das Gute verkörpern muss. In Bad Belzig zum Beispiel verzockte sich der Versorger beim Stromhandel und musste Insolvenz anmelden. In Oranienburg wollten die Stadtwerke keine Netzanschlüsse mehr vornehmen, weil angeblich die Kapazitäten erschöpft seien. Dann stellt sich heraus, dass der Versorger nicht ausreichend in die Netze investiert hatte, um mehr Gewinn bilanzieren zu können. Das kann nicht der Sinn sein, Erlöse vor die Versorgung zu stellen. Wenn es konservatives Denken ist, Versorgungssicherheit zu gewährleisten, dann darf die Branche gerne konservativ sein. Wird das Konservative wie eine Monstranz vor sich hergetragen, um Veränderungen zu verzögern oder zu verhindern, dann kritisieren wir das, egal ob beim kleinen Stadtwerk oder großen Konzern.
E&M: Reagiert die Branche bisweilen auf Kritik?
Sagmeister: Durchaus. Ich erinnere mich an einen Kommentar, in dem ich den Wildwuchs von 800 Stadtwerken in Deutschland thematisierte. Meine Zuspitzung lautete, dass nicht in jedem Dorf mit Kirche ein eigener Versorger vorhanden sein müsse und es nach sinnvollen Zusammenschlüssen auch 50 statt 800 Stadtwerke täten. Das brachte mir einen Brief der Verbände VKU und BDEW ein. In dem hieß es, alle Stadtwerke erledigten einen guten Job und hätten ihre Daseinsberechtigung ... Strukturen aufzubrechen ist in der Branche nach wie vor ein dickes Brett.
Sendner: Der Journalismus hat zudem mit einer veränderten Unternehmenskultur zu kämpfen. Früher genügte ein kurzer Anruf beim Pressesprecher, um einen direkten Kontakt zum Vorstand zu bekommen. Heute ist das viel bürokratischer. Eine Ad-hoc-Meinung gibt es so gut wie nicht mehr. Es dauert oft Tage bis zur gewünschten Information, weil das Unternehmen die Antworten zunächst intern abstimmt. Das erschwert es, guten Journalismus zu machen.
E&M: Dann gibt es ja auch noch die Neigung, über eine Pressemitteilung hinaus keine weiteren Erklärungen abgeben zu wollen. Wann haben Sie Unternehmen denn aufgeschlossener erlebt?
Sendner: Als die Marketingbudgets üppiger waren. Wir sind beispielsweise mit der Concorde um die Welt geflogen, um Firmen zu wichtigen Kunden oder Projekten zu begleiten. Zweck der Übung war für die Unternehmen natürlich, mit den Einladungen ihr Image aufzupolieren. Mir war dagegen wichtig, an Menschen zu treffen und Informationen zu kommen, die einem normalerweise nicht so leicht zugänglich sind.
Sagmeister: Das kann ich nur bestätigen. Ich habe einmal auf Einladung der Ruhrgas eine Gasförderplattform in der Nordsee besuchen können. Wer nicht mit eigenen Augen gesehen hat, welch Know-how und Ingenieurskunst erforderlich sind, um Erdgas aus dem Meeresboden zu holen, der kann sich das nicht vorstellen. Eine Erfahrung, die absolut hilfreich für den Job war. In dem Moment habe ich mich als Journalist privilegiert gefühlt, weil du diese Reisen in keinem Urlaubskatalog findest.
Sendner: Der Erkenntnisgewinn ist nicht zu unterschätzen. Meine interessanteste Pressereise hat mich ins sibirische Nowy Urengoi geführt, wo Russland wegen eines enormen Gasvorkommens eine Großstadt ins Nichts gesetzt hat. Der Konzern, der dahintersteht, ist natürlich Gazprom. Es war hochspannend zu sehen, wie viel Geld das Staatsunternehmen dort für soziale Einrichtungen und die Bildung der Bevölkerung ausgibt. Das interessant zu finden, macht mich übrigens nicht zum Putin-Versteher. Und Pressefahrten machen uns auch nicht zu Verbündeten der Unternehmen.
E&M: Wie kann unabhängiger Journalismus den Verlockungen denn widerstehen?
Sendner: Indem man sich nicht kaufen lässt. Es passiert noch immer, dass Unternehmen fragen, was denn ein Artikel bei uns ‚kostet‘. Ich habe immer geantwortet: ‚Meine Zeit kostet das!‘ Qualitätsjournalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er Themen aufgrund ihrer Relevanz aufgreift und nicht, weil sich damit schnelles Geld verdienen lässt. Wer uns Offerten gemacht hat, wollte uns als Trittbrett für profane Geschäfte missbrauchen, um etwa näher an die Wind- und Solarenergiebranche heranzurücken.
Sagmeister: Das hat mir schon imponiert, als du 2016 mit dem Angebot an mich herangetreten bist, dein Nachfolger als Chefredakteur werden zu können. Die klare Haltung, auf leichter verdientes Geld zu pfeifen, weil das unweigerlich mit einer untertänigen Berichterstattung im Interesse von Unternehmen verbunden gewesen wäre.
Sendner: Sauber zu bleiben − dadurch haben wir uns am Ende den Namen gemacht, Respekt verschafft und letztlich auch Abonnements gewonnen. Und im Gegenteil halten wir bis heute an Aktivitäten fest, die uns Geld kosten. Wir zeichnen seit dem Jahr 2000 den Energiemanager des Jahres aus, um Frauen und Männer in Führungspositionen zu ehren, die sich mit ihrem Unternehmen im liberalisierten Energiemarkt beweisen müssen. Es gibt unseren Contracting Award, um Energieeffizienz zu beflügeln, oder die Auszeichnung zum Blockheizkraftwerk des Jahres. All das zeigt, dass wir als Redaktion und Verlag gute Ideen unterstützen. Nicht ideologisch, sondern um in den Vordergrund zu rücken, was für die Transformation der Energiewirtschaft und die dezentrale Energieversorgung erforderlich ist. Insofern haben wir es immer sehr ernst genommen, nicht Trends zu folgen, sondern Trends zu setzen.
E&M: Mit einem Eigentümerwechsel begann 1994 die Idee von E&M, ein Eigentümerwechsel markierte 2022 auch Ihren Ausstieg aus dem operativen Geschäft, Helmut Sendner. Wofür steht das?
Sendner: Für mich war klar, dass wir den Verlag irgendwann verkaufen würden. Wir hatten nicht die Größe, Hunderttausende Euro investieren zu können, wenn beispielsweise eine neue Software fällig würde, um Abogeschäft und Verlag digital auf dem neuesten Stand steuern zu können. Über die Jahre sind immer wieder Kaufinteressenten an uns herangetreten, die selten unseren Vorstellungen entsprachen. Uns war wichtig, E&M nicht an einen Konzern zu übergeben, sondern in Privathände. Nicht allein die Rendite, sondern den Qualitätsjournalismus im Blick zu haben, das hat mich an Martin Brückner und MBI überzeugt.
E&M: Das Gespräch haben wir mit einer Schlagzeile begonnen, lassen Sie es uns auch damit schließen. Welche Überschrift wünschen Sie sich, wenn E&M noch einmal 30 Jahre älter ist, im Jahr 2054?
Sagmeister: Ich wünsche mir: ‚Deutschland wirtschaftet zu 100 Prozent CO2-frei‘ − dann wäre die unglaublich schwierige Aufgabe erfolgreich erledigt, zu der wir uns per Gesetz verpflichtet haben.
Sendner: Dass die Energieerzeugung CO2-frei ist, wäre auch meine Wunschzeile. Ein anderer Wunsch wäre, dass ich diese Zeile überhaupt noch lesen kann. Ich wäre dann 107 Jahre alt...

Stefan Sagmeister (l.) und Helmut Sendner
Quelle: Evi Ludwig
Quelle: Evi Ludwig
E&M: Um uns der Energiewirtschaft von vor 30 Jahren zu nähern, Helmut Sendner, dürfen Sie uns Ihre Lieblingsschlagzeile des Jahres 1994 reichen. Welche?
Sendner: Auch wenn sie in der Form nicht erschienen ist, lautet meine ganz persönliche Schlagzeile: ‚E&M ist neu entstanden auf dem Markt‘.
E&M: Was macht diese Nachricht zu einer besonderen?
Sendner: Es war damals ein Wagnis, ein neues unabhängiges Blatt aufzubauen. Denn der Markt war mit Zeitschriften für die Energiewirtschaft gut besetzt. Mich muss wohl der Teufel geritten haben. Wir haben uns bei den Banken viel Geld geborgt, um das Abenteuer beginnen zu können. Letztlich hatte ich nach einem Eigentümerwechsel beim Energie Spektrum, dessen Chefredakteur ich bis dahin war, keine Alternative zu der Idee gesehen, mit einigen anderen Freigeistern eine weitere Zeitschrift auf den Markt zu bringen. Die Anfangszeit ist mit stressig nur unzureichend beschrieben: Wir haben sieben Tage die Woche gearbeitet, meine Frau Gisela als Inhouse-Managerin und ich haben auf Gehalt verzichtet, um unsere Redaktion bezahlen zu können. Denn der Markt reagierte zunächst verwirrt und zurückhaltend. Er hat einige Monate gebraucht, um die neue Qualität zu erkennen und Anzeigen zu schalten.
E&M: Wie, Stefan Sagmeister, war die Außenwahrnehmung jener Zeit?
Sagmeister: Ich kam ein knappes Jahrzehnt nach der Gründung von E&M erstmals beruflich mit der Energiewirtschaft in Berührung. Da umgab den Verlag bereits eine gewisse Aura, teils sprach man ehrfürchtig von ihm, einigen erschien er auch etwas verrucht. Immer schwang allerdings der Respekt mit, dass E&M sich nicht darum scherte, selbst den Großen auf den Schlips zu treten. Das mag mit Helmut Sendners legendärer Abneigung gegen Krawatten zu tun haben … Mit seiner äußeren Erscheinung, dem wallenden Bart und der Art, unbequeme Fragen zu stellen, prägte er das Bild von E&M als unkonventionellem Medium.
E&M: ... das sich ganz rebellisch ein Schloss als Verlagssitz gönnte ...
Sendner: Ich betrat es als Mitarbeiter, Schlossherrin war eindeutig meine Frau. Als unser Büro am Ammersee zu klein wurde, schalteten wir eine Suchannonce. Es meldete sich die Eigentümerin des Schlosses in Herrsching, das seit jeher unsere Fantasie beflügelt hatte, weil wir täglich auf dem Weg zur Arbeit daran vorbeikamen. Meine Frau bot eine unserem Budget entsprechende Miete, worauf die ältere Dame kurz und knapp sagte: ‚Genau so viel haben wir uns vorgestellt.‘
Sagmeister: Chefredakteure können sich ihre Schlossherrenträume in dem altehrwürdigen Gemäuer übrigens schnell abschminken. Mein ‚Thron‘ steht in einer zehn Quadratmeter großen Kammer. Die Wände sind dermaßen dick, dass der Handyempfang, nun ja, besonders gut in dem sehr schönen Garten ist ...
Sendner: Die Umgebung erzeugt einfach eine kreative Atmosphäre. Es macht einen Unterschied, ob ich bei der Arbeit auf alte Bäume und den See oder auf Betonklötze schaue.
E&M: Wie unterscheidet sich die journalistische Arbeit, die heute vom Schloss ausgeht, von den Anfängen?
Sagmeister: Die Zeiten sind schwer zu vergleichen. Eine im Rhythmus von 14 Tagen erscheinende Printzeitung als Flaggschiff hat vor 30 Jahren hervorragend funktioniert, als die Monopole in der Energiewirtschaft fielen und die Liberalisierung des Marktes viele neue Stadtwerke und Player hervorbrachte. Heute herrscht eine große Vielfalt, sowohl an Fachmedien als auch an Verbreitungskanälen. Wir produzieren weiter eine monatlich gedruckte Ausgabe, bedienen aber besonders das Bedürfnis nach schneller Information über das Online-Portal, versenden Newsletter, bieten einen Podcast und weitere digitale Dienste. Heute ließe sich ein Kaltstart wie bei E&M vor 30 Jahren vermutlich nur mit einem sehr großen Batzen Geld verwirklichen. Und ob das nachhaltig funktionieren könnte, sei dahingestellt.
Sendner: Ich blicke nicht ohne eine gewisse Genugtuung darauf, im Jahr 2000 mit Powernews den ersten Online-Nachrichtendienst für die Energiewirtschaft in Deutschland gegründet zu haben. Wir haben dabei nicht den Fehler begangen, ihn frei zugänglich zu machen und erst später kostenpflichtige Inhalte anzubieten. Es war sehr kühn von uns, von Beginn an streng Geld für aktuelle Nachrichten zu verlangen. Das war 1994 noch anders.
E&M: Inwiefern?
Sendner: Zu meiner Zeit konnten wir uns den Qualitätsjournalismus nur leisten, weil wir parallel viel mehr angeboten und damit Geld verdient haben. Wir waren Dienstleister im wirtschaftlichen Umfeld, was uns viel Anerkennung verschafft hat. Etwa durch von uns organisierte Foren auf Messen oder moderierte Großveranstaltungen. Die Exportinitiativen Erneuerbare Energien und später Energieeffizienz sind nur zwei Beispiele. Das Bundeswirtschaftsministerium unterstützt damit bis heute kleine und mittlere Unternehmen beim Auslandsgeschäft und wir haben dafür anfangs die Konzepte erstellt und weltweit Veranstaltungen moderiert. Eine andere unserer Nebentätigkeiten hat uns schließlich eine Klage vor einem Gericht in Karlsruhe eingebracht.
E&M: Was war der Vorwurf?
Sendner: Nun, mit einem norwegischen Partner hatten wir Mitte der 2000er-Jahre Powermonitor gegründet. Unsere Idee war, die Kraftwerksleistungen der großen Betreiber zu messen und zu veröffentlichen, um den Markt transparenter zu machen. Unsere Daten gaben Aufschluss über die aktuelle Erzeugung. Das passte Utz Claassen, dem damaligen Chef der Energie Baden-Württemberg, überhaupt nicht. Er verklagte uns wegen angeblicher Werksspionage. Den Prozess verlor EnBW in der ersten Instanz, daraufhin gab das Unternehmen klein bei.
E&M: Eine unvorstellbare Abwehrstrategie aus heutiger Sicht, wo die Energiewende ein komplexes Puzzle verschiedenster Erzeugungsanlagen ist und Transparenz über die verfügbare Kraftwerksleistung erfordert. Wie blicken Sie heute auf ‚die großen Vier‘ − Vattenfall, RWE, Eon und EnBW?
Sendner: Die Zeiten sind lange vorbei, dass RWE-Vorstände auf Bilanzpressekonferenzen unwidersprochen behaupten konnten, Strom fließe nur in eine Richtung − nämlich vom Kraftwerk zum Kunden und nicht umgekehrt. Oder alte Aussagen von Eon, unter dezentraler Erzeugung seien fossile Kraftwerksblöcke mit 80 bis 100 Megawatt zu verstehen. Jürgen Großmann, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von RWE, wischte Forderungen nach mehr Solarenergie in Deutschland seinerzeit mit dem Spruch vom Tisch, in Alaska baue man auch keine Ananas an. Die Konzerne haben massiv versucht, den Untergang ihrer alten Geschäftsmodelle hinauszuzögern und ihre Position zu verteidigen. Heute lässt sich angesichts vieler Stadtwerke und alternativer Energieerzeuger nicht mehr so einfach von Monopolen und den ‚Bösen‘ reden. 2.000 hinzugekommene Akteure auf dem Gas- und Strommarkt zeugen von der Liberalisierung. Die Großen verfügen nach wie vor über viel Geld und vielleicht 50 Prozent Marktanteil, aber nicht mehr über die Macht, neue Unternehmen zu verhindern.
Sagmeister: Zur ‚Ehrenrettung‘ der Großen sei darauf verwiesen, dass ein Stadtwerk nicht automatisch das Gute verkörpern muss. In Bad Belzig zum Beispiel verzockte sich der Versorger beim Stromhandel und musste Insolvenz anmelden. In Oranienburg wollten die Stadtwerke keine Netzanschlüsse mehr vornehmen, weil angeblich die Kapazitäten erschöpft seien. Dann stellt sich heraus, dass der Versorger nicht ausreichend in die Netze investiert hatte, um mehr Gewinn bilanzieren zu können. Das kann nicht der Sinn sein, Erlöse vor die Versorgung zu stellen. Wenn es konservatives Denken ist, Versorgungssicherheit zu gewährleisten, dann darf die Branche gerne konservativ sein. Wird das Konservative wie eine Monstranz vor sich hergetragen, um Veränderungen zu verzögern oder zu verhindern, dann kritisieren wir das, egal ob beim kleinen Stadtwerk oder großen Konzern.
E&M: Reagiert die Branche bisweilen auf Kritik?
Sagmeister: Durchaus. Ich erinnere mich an einen Kommentar, in dem ich den Wildwuchs von 800 Stadtwerken in Deutschland thematisierte. Meine Zuspitzung lautete, dass nicht in jedem Dorf mit Kirche ein eigener Versorger vorhanden sein müsse und es nach sinnvollen Zusammenschlüssen auch 50 statt 800 Stadtwerke täten. Das brachte mir einen Brief der Verbände VKU und BDEW ein. In dem hieß es, alle Stadtwerke erledigten einen guten Job und hätten ihre Daseinsberechtigung ... Strukturen aufzubrechen ist in der Branche nach wie vor ein dickes Brett.
Sendner: Der Journalismus hat zudem mit einer veränderten Unternehmenskultur zu kämpfen. Früher genügte ein kurzer Anruf beim Pressesprecher, um einen direkten Kontakt zum Vorstand zu bekommen. Heute ist das viel bürokratischer. Eine Ad-hoc-Meinung gibt es so gut wie nicht mehr. Es dauert oft Tage bis zur gewünschten Information, weil das Unternehmen die Antworten zunächst intern abstimmt. Das erschwert es, guten Journalismus zu machen.
E&M: Dann gibt es ja auch noch die Neigung, über eine Pressemitteilung hinaus keine weiteren Erklärungen abgeben zu wollen. Wann haben Sie Unternehmen denn aufgeschlossener erlebt?
Sendner: Als die Marketingbudgets üppiger waren. Wir sind beispielsweise mit der Concorde um die Welt geflogen, um Firmen zu wichtigen Kunden oder Projekten zu begleiten. Zweck der Übung war für die Unternehmen natürlich, mit den Einladungen ihr Image aufzupolieren. Mir war dagegen wichtig, an Menschen zu treffen und Informationen zu kommen, die einem normalerweise nicht so leicht zugänglich sind.
Sagmeister: Das kann ich nur bestätigen. Ich habe einmal auf Einladung der Ruhrgas eine Gasförderplattform in der Nordsee besuchen können. Wer nicht mit eigenen Augen gesehen hat, welch Know-how und Ingenieurskunst erforderlich sind, um Erdgas aus dem Meeresboden zu holen, der kann sich das nicht vorstellen. Eine Erfahrung, die absolut hilfreich für den Job war. In dem Moment habe ich mich als Journalist privilegiert gefühlt, weil du diese Reisen in keinem Urlaubskatalog findest.
Sendner: Der Erkenntnisgewinn ist nicht zu unterschätzen. Meine interessanteste Pressereise hat mich ins sibirische Nowy Urengoi geführt, wo Russland wegen eines enormen Gasvorkommens eine Großstadt ins Nichts gesetzt hat. Der Konzern, der dahintersteht, ist natürlich Gazprom. Es war hochspannend zu sehen, wie viel Geld das Staatsunternehmen dort für soziale Einrichtungen und die Bildung der Bevölkerung ausgibt. Das interessant zu finden, macht mich übrigens nicht zum Putin-Versteher. Und Pressefahrten machen uns auch nicht zu Verbündeten der Unternehmen.
E&M: Wie kann unabhängiger Journalismus den Verlockungen denn widerstehen?
Sendner: Indem man sich nicht kaufen lässt. Es passiert noch immer, dass Unternehmen fragen, was denn ein Artikel bei uns ‚kostet‘. Ich habe immer geantwortet: ‚Meine Zeit kostet das!‘ Qualitätsjournalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er Themen aufgrund ihrer Relevanz aufgreift und nicht, weil sich damit schnelles Geld verdienen lässt. Wer uns Offerten gemacht hat, wollte uns als Trittbrett für profane Geschäfte missbrauchen, um etwa näher an die Wind- und Solarenergiebranche heranzurücken.
Sagmeister: Das hat mir schon imponiert, als du 2016 mit dem Angebot an mich herangetreten bist, dein Nachfolger als Chefredakteur werden zu können. Die klare Haltung, auf leichter verdientes Geld zu pfeifen, weil das unweigerlich mit einer untertänigen Berichterstattung im Interesse von Unternehmen verbunden gewesen wäre.
Sendner: Sauber zu bleiben − dadurch haben wir uns am Ende den Namen gemacht, Respekt verschafft und letztlich auch Abonnements gewonnen. Und im Gegenteil halten wir bis heute an Aktivitäten fest, die uns Geld kosten. Wir zeichnen seit dem Jahr 2000 den Energiemanager des Jahres aus, um Frauen und Männer in Führungspositionen zu ehren, die sich mit ihrem Unternehmen im liberalisierten Energiemarkt beweisen müssen. Es gibt unseren Contracting Award, um Energieeffizienz zu beflügeln, oder die Auszeichnung zum Blockheizkraftwerk des Jahres. All das zeigt, dass wir als Redaktion und Verlag gute Ideen unterstützen. Nicht ideologisch, sondern um in den Vordergrund zu rücken, was für die Transformation der Energiewirtschaft und die dezentrale Energieversorgung erforderlich ist. Insofern haben wir es immer sehr ernst genommen, nicht Trends zu folgen, sondern Trends zu setzen.
E&M: Mit einem Eigentümerwechsel begann 1994 die Idee von E&M, ein Eigentümerwechsel markierte 2022 auch Ihren Ausstieg aus dem operativen Geschäft, Helmut Sendner. Wofür steht das?
Sendner: Für mich war klar, dass wir den Verlag irgendwann verkaufen würden. Wir hatten nicht die Größe, Hunderttausende Euro investieren zu können, wenn beispielsweise eine neue Software fällig würde, um Abogeschäft und Verlag digital auf dem neuesten Stand steuern zu können. Über die Jahre sind immer wieder Kaufinteressenten an uns herangetreten, die selten unseren Vorstellungen entsprachen. Uns war wichtig, E&M nicht an einen Konzern zu übergeben, sondern in Privathände. Nicht allein die Rendite, sondern den Qualitätsjournalismus im Blick zu haben, das hat mich an Martin Brückner und MBI überzeugt.
E&M: Das Gespräch haben wir mit einer Schlagzeile begonnen, lassen Sie es uns auch damit schließen. Welche Überschrift wünschen Sie sich, wenn E&M noch einmal 30 Jahre älter ist, im Jahr 2054?
Sagmeister: Ich wünsche mir: ‚Deutschland wirtschaftet zu 100 Prozent CO2-frei‘ − dann wäre die unglaublich schwierige Aufgabe erfolgreich erledigt, zu der wir uns per Gesetz verpflichtet haben.
Sendner: Dass die Energieerzeugung CO2-frei ist, wäre auch meine Wunschzeile. Ein anderer Wunsch wäre, dass ich diese Zeile überhaupt noch lesen kann. Ich wäre dann 107 Jahre alt...
Zur Person: Helmut Sendner
Zur Person: Stefan Sagmeister
Stefan Sagmeister ist diplomierter Betriebswirt und seit 2016 Chefredakteur von Energie & Management, mit seinen mehr als
zehn Redakteurinnen und Redakteuren einer der führenden Fachverlage für die Energiewirtschaft in Deutschland. Dort ist er
verantwortlich für alle Redaktionsprodukte wie die gleichnamige Fachzeitschrift, das E&M Online-Nachrichtenportal oder den täglichen Newsletter E&M daily. Zuvor war er ab 2008 Chefredakteur beim Nachrichtendienstleister Energate in Essen. Das energiewirtschaftliche Know-how eignete er sich ab 2003 als Redakteur bei der Zeitung für kommunale Wirtschaft (ZfK) an. Seine journalistische Laufbahn startete er 1997 beim Regionalverlag Landshuter Zeitung.
Volker Stephan
© 2025 Energie & Management GmbH
Freitag, 12.07.2024, 09:45 Uhr
Freitag, 12.07.2024, 09:45 Uhr
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