
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 2. September der Beschwerde der EU-Kommission gegen die deutsche Umsetzung der Strom- und Gasrichtlinie im vollen Umfang stattgegeben. Die Behörde in
Brüssel hatte die Bundesregierung 2018 vor dem EuGH verklagt, nachdem Verhandlungen zwischen Berlin und Brüssel über das deutsche
Regulierungsmodell ohne Ergebnis geblieben waren.
Die Kommission kritisiert darin Abweichungen der deutschen Regeln von den Vorgaben der EU in vier Punkten. Der deutsche Gesetzgeber habe den Begriff des „vertikal integrierten Unternehmens“ unzulässigerweise auf Unternehmen beschränkt,
die „in der (Europäischen) Union“ tätig seien. Damit müssen nach Ansicht Brüssels weniger Unternehmen „wirksam entflochten“
werden. Dies beschwöre die Gefahr herauf, dass beim Zugang zu den Strom- und Gasleitungen nicht alle Unternehmen gleich behandelt
würden.
Die zweite Rüge der Kommission bezieht sich darauf, dass die Unabhängigkeit der Manager in den Versorgungsunternehmen nicht
ausreichend sichergestellt sei. Dabei geht es um die Karenzzeiten für Führungskräfte der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB).
Sie müssten bei einem Wechsel innerhalb eines Konzerns auch dann gelten, wenn die Führungskraft zuvor nicht im Energiebereich
des Konzerns tätig war.
Gemäß der Strom- und Gasrichtlinie dürfen die Beschäftigten der Übertragungsnetzbetreiber keine Anteile an Energiekonzernen
halten oder von diesen finanzielle Zuwendungen erhalten. Den Einwand aus Berlin, dies könne gegen die Eigentumsgarantie des
Grundgesetzes verstoßen, haben die Luxemburger Richter der EU jetzt zurückgewiesen.
Die weitreichendste Entscheidung
Als am weitreichendsten dürfte sich erweisen, dass der EuGH die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Bundesregierung und
der Bundesnetzagentur (BNetzA) bei der Regulierung der deutschen Energiewirtschaft grundsätzlich in Frage stellt. Nach den
2009 verabschiedeten Richtlinien zur Regulierung des Strom- und Gasmarktes sind dafür ausschließlich die nationalen Regulierungsbehörden
zuständig.
Nach dem deutschen Energiewirtschaftsgesetz (Paragraph 24) behält die Bundesregierung aber erhebliche Befugnisse, wenn es darum geht, unter welchen Bedingungen und zu welchen Preisen
Unternehmen Zugang zum deutschen Strom- und Gasmarkt erhalten. Die BnetzA muss sich bei ihrer Arbeit an die Vorgaben der Bundesregierung
halten. Die werden vom Wirtschaftsminister gemacht und vom Bundesrat beschlossen.Nur die „vollständige Unabhängigkeit“ der
BnetzA könne gewährleisten, dass die Regulierer gegenüber allen „Wirtschaftsteilnehmern und öffentlichen Einrichtungen unparteiisch
und diskriminierungsfrei handeln“, heißt es in dem Urteil. Das gelte insbesondere für die Tarife und Berechnungsmethoden im
inländischen und grenzüberschreitenden Handel. Sie dürften nur nach auf europäischer Ebene festgelegten Grundsätzen und Regeln
ermittelt werden.
Berufung auf Demokratieprinzip zurückgewiesen
Den Einwand der Bundesregierung, die vollständige Unabhängigkeit einer Behörde widerspreche den Grundsätzen der demokratischen
Kontrolle über die Verwaltung, lässt das Gericht ebenfalls nicht gelten. Tatsächlich seien die Zuständigkeiten der nationalen
Regulierungsbehörden nur prozeduraler Natur und würden auf der Grundlage einer „technisch-fachlichen Beurteilung“ wahrgenommen.
Einen „Wertungsspielraum“, der zu Entscheidungen politischer Art führe, müsse die BnetzA nicht erhalten.
Mit der Entscheidung steht der Paragraph 24 EnWG voraussichtlich vor dem Aus. Das deutsche Energierecht muss grundsätzlich überarbeitet werden.
Die Forderung der Anwaltskanzlei Becker-Büttner-Held (BBH) nach einer Anpassung des europäischen Rechtes an das deutsche dürfte
in Brüssel auf wenig Verständnis stoßen – zumal inzwischen fast alle anderen Mitgliedsstaaten die beiden Richtlinien korrekt
umgesetzt haben.
BBH kritisiert, dass die BNetzA nach dem Urteil des EuGH eine „Superbehörde“ werde, die sich um deutsche Gesetze und Verordnungen
nicht mehr kümmern müsse. Damit werde der Rechtsschutz der betroffenen Unternehmen unterminiert.
Donnerstag, 02.09.2021, 13:46 Uhr